Gegenseitigkeit, Dezentralisierung und Kredit vor 150 Jahren

Der Traum von der Revolutionierung des Finanzwesens durch Disintermediation mag topaktuell sein. Aber die Ideen, die unser Umdenken zu Kredit, Vertrauen und Governance vorantreiben, sind alles andere als neu.

Während heute die Diskussion vom Informationszeitalter getrieben wird, wurden die Finanzinnovationen Mitte des 19. Jahrhunderts ausgelöst durch den Zusammenprall der Industrialisierung mit den Überresten einer ländlichen, feudalen Gesellschaft.

In ihrer Mitte befand sich eine Gruppe von Sozialreformern.
Während die großen Banken, die sich in den großen Städten gebildet hatten, Unternehmer mit Kapital versorgten, war ein großer Teil der Bevölkerung vom sozialen Fortschritt ausgeschlossen.

Nur wenig von den Reichtümern des Kapitalismus sickerte zu den kleinen Handwerkern und Bauern durch, und mit dem Ende der Feudalzeit schwand auch die Kontrolle der Zünfte über die Handwerker.

Die Revolutionen von 1848 wurden zwar zunächst von den feudalistischen Kräften zurückgeschlagen. Aber die Gesellschaft war so stark belastet, dass sie nach Erleichterungen für die verarmte Bevölkerung suchte, auch um die aufkommende sozialistische Bewegung in Schach zu halten.

Die meisten Reformer kamen aus dem bürgerlichen Beamtentum: Hermann Schulze-Delitzsch für die städtische Volksbankenbewegung und Friedrich Wilhelm Raiffeisen für das landwirtschaftliche Genossenschaftswesen, das neben Krediten auch Saatgut und Futtermittel lieferte.

Das Angebot an Krediten hängt von der Fähigkeit ab, sie zurückzuzahlen. Gläubiger kleiner Schuldner gingen ein erhebliches Risiko ein, nicht nur wegen der Ernteausfälle, sondern auch, weil von vornherein nicht klar war, dass die Schuldner den Kredit vernünftig verwenden würden.

Die Aufgabe, gutes Verhalten zu überwachen, fiel traditionell den Kirchen und Zünften zu, beides Institutionen im Niedergang, so dass kommerzielle Bonitätsprüfer wie die Creditreform entstanden, um die Kreditvergabe an schlechte Schuldner in Zaum zu halten.

Die Gemeinsamkeit dieser aufstrebenden Institutionen besteht darin, dass sie alle nach dem Prinzip der Gegenseitigkeit gegründet wurden, entweder als Vereine, Genossenschaften oder ähnliche Formen, die keinen Gewinn anstrebten.

Typischerweise war, zumindest in der Anfangszeit, die individuelle Haftung oft unbegrenzt, um das Vertrauen externer Investoren zu gewinnen.

Das daraus entstandene System folgte in weiten Teilen den Governance-Regeln, die ein Jahrhundert später von der Nobelpreisträgerin Elinor Ostrom aufgestellt wurden. Kredit wurde als öffentliches Gut betrachtet, das allen zur Verfügung stehen und von allen überwacht werden sollte.

Ostroms Governance-Regelwerk beinhaltet wechselseitige Mechanismen wie abgestufte Sanktionen und schnelle und faire Konfliktlösung, die im genossenschaftlichen Kreditsystem der Sparvereine, Bausparkassen und Volks- und Raiffeisenbanken vor 150 Jahren fest verankert wurden.

Heute haben sich Kreditgenossenschaften, Genossenschaftsbanken und Bonitätsvereine in das Gefüge des modernen Bankwesens eingefügt und die Gebaren der „Großbanken“ zu einem gewissen Grad assimiliert.

Als der ländliche und kleinunternehmerische Zweig der Bankenwelt decken sie immer noch eher das vorsichtige Spektrum der Kreditwelt ab, das vor allem in Europa immer noch ein wichtiger Motor für wirtschaftlichen Fortschritt und Wohlstand ist.

Im Gegenzug haben sie es geschafft, den Niedergang vieler renommierterer Großbanken zu vermeiden und die wichtige Rolle als Hüter guter Unternehmensführung und Rechnungslegung zu behalten – eine Reputation, die viele Großbanken nach der Finanzkrise verloren haben.

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