Wie Sie schon bemerkt haben dürften, leben wir in sogenannten „interessanten Zeiten“. Im Ausgang der klassische Industrialisierung und dem Anfang der sogenannten Postmoderne finden wir uns in diversen gesellschaftspolitischen, ökonomischen und ökologischen Krisen wieder, die mit einer zunehmenden Spaltung der Gesellschaften und Alleingängen der Nationen einhergehen. Interessant, unübersichtlich und voller Überraschungen. Wie immer in Krisenzeiten, suchen wir völlig neue Strategien, noch radikalere Innovationen und übervisionäre Zukunftsszenarien – oder warten einfach auf den Untergang. Ohne ein eigenes Verständnis der Zusammenhänge und eine eigene Sicht der Zukünfte werden wir gezwungen sein dem Vorgedachten anderer zu folgen – was nicht notwendigerweise richtig und auch kein Alleinstellungsmerkmal ist – und wir werden die Bewegungen der Wettbewerber, weder ihre Annahmen, Innovationen noch ihre Fehler – einschätzen können. Falls Sie es also vorziehen nicht blind zu fliegen, sondern ihre Zukunft selber zu denken, gebe ich Ihnen einige Regeln an die Hand – wobei die erste Regel natürlich lautet, dass es keine Regeln gibt.
Nichts ist festgelegt
Die erste Regel besagt, dass die Zukunft nicht festgelegt ist, denn dann wäre es so etwas wie Schicksal. Üblicherweise kommen jetzt die Bemerkungen „Wenn es unsicher ist, warum tun wir es dann? und “Es ist also doch ein Orakel!“ Entweder nehme ich es humorvoll und verweise darauf, dass ich gerade meine Kristallkugel oder Knochen zu Hause vergessen haben (sollten Sie sich übrigens für alte und neue Methoden der Vorhersage interessieren, empfehle ich Ihnen das Programm PredictionsX der Harvard University) oder ich nehme es mehr wissenschaftlich. Demnach sind alle Aussagen über die Zukunft Vorhersagen, egal ob Wetterprognosen, Aktienkurse oder persönliche Schicksale, unabhängig davon, wie wissenschaftlich oder spekulativ die Methoden auch sein mögen. Sie unterscheiden sich lediglich im Grad der Genauigkeit. Die beste Vorhersage liefert die Quantenphysik, aber ironischerweise nützt uns dies wenig in unserer makroskopischen Welt. Die Zukunftsszenarien mögen ungenau sein, letztlich sind das Karten aber auch und wir haben gute Verwendung für sie.
Nicht nur die eine
Die zweite Regel legt fest, dass es nicht DIE Zukunft gibt, sondern immer mehrere Möglichkeiten. Natürlich wissen wir, dass wir Plan B und C haben, weil A selten funktioniert, aber wir mögen es trotzdem nicht besonders. Entgegen unseren Erfahrungen, und scheinbar besonders gerne in der Innovation und der Geschäftsstrategie, wollen wir möglichst jede Unklarheit beseitigen. Oder wie mir mal ein Auftraggeber sagte: „Geben Sie mir einfach Ihre besten zehn Ideen und streichen Sie die neun, die nicht funktionieren werden.“ Sie benötigen keine zwanzig Zukünfte, zwischen drei und sieben sollten es aber schon sein.
Linear ist lahm
Besonders in Krisenzeiten präferieren wir schnelle und einfache Antworten. Wir nennen dies „lineare Zukünfte“, die das bekannte „Jetzt“ nach vorne verlängern, angereichert mit einem Schuss Blockchain, Digitalisierung oder Nachhaltigkeit. Wir wissen aus der Geschichte und unseren Privatleben, dass die Zukunft selten geradeaus verläuft, sondern häufig Wendungen vornimmt. Seien Sie also skeptisch, wenn sie allzu einfache Zukünfte lesen oder gedacht haben und dementsprechend lautet die dritte Regel, dass lineare Zukünfte lahme Zukünfte sind.
Kreative Küche
Wie in jeder guten Küche, sollten wir viele Gewürze verwenden, d.h. interessante Trends und Einflussfaktoren, aber eben nicht zu viele. Konkreter formuliert, benötigen alle Zukünfte Faktoren oder Kombinationen davon, die nicht Mainstream sind oder dem sogar widersprechen. Die vierte Regel legt fest, dass die Zukunft gut gewürzt sein sollte. Sie können ja gerne einen der geschmacksneutraleren Geschäftsberichte als Nachtisch lesen.
Einflüsse minimieren
Bevor wir weiter machen mit den Regeln, schiebe ich einen Kommentar zum freien Denken in interessanten Zeiten ein. Ich denke nicht, dass ich diesen Abschnitt vor ein paar Jahren für notwendig erachtet hätte, aber wir leben gerade in politisch und medial hochgeschäumten Zeiten. Anstelle des Diskurses ist Meinungsmache, Aufgeregtheit und politisch korrekte Haltung getreten – welche es auch jeweils sei – und wir werden mit Informationen, Desinformationen und Narrativen überflutet. Wir haben diese Entwicklung auf der letzten ICI Konferenz diskutiert und waren uns weitgehend einig, dass es unter diesen Bedingungen zunehmend schwerer ist eine solide, vorurteilsfreie Informationsbasis aufzubauen.
Framing, Narrative und Mythen
In den letzten Jahren hat sich einiges geändert. Wurden in der Summe der Medien die Themen eher ausgewogen betrachtet, sind seit dem Beginn von Social Media, die Medien stärker meinungsbildend und weniger diskursiv ausgerichtet. Als neutrale Ausgangslage für eine vielfältige Zukunft reichen die oftmals in dieselbe Richtung zielenden Veröffentlichungen der Medien, Analysten, Organisationen und Firmen nicht mehr aus. Zudem werden vermehrt sogenannte Narrative aufgebaut, wie zum Beispiel „Industrie 4.0“ oder „The Great Reset“ des World Economic Forums, die eine bestimmte Zukunftsrichtung vorgeben und damit einen Denkrahmen (framing) setzen – was unter anderem Sinn der Übung ist. Großen Einfluss haben auch die Erzählungen des Kinos und der Serien der Streamingdienste. Wenn Sie aufmerksam sind, werden sie viele der Zukunftsthemen dort bereits abgehandelt finden. Wir werden immer beeinflusst von Denkrahmen, Erzählungen und Mythen, problematisch für unabhängige Zukunftssichten wird dies nur, wenn wir die darunter liegenden Annahmen und ihre Richtungspfeile unreflektiert akzeptieren. Mein Ratschlag ist, dass Sie sich der bestimmenden Narrative und Mythen der Gegenwart bewusst werden und immer auch eine gegenläufige Zukunft denken – unabhängig davon, ob Sie zustimmen oder nicht und welche Zukunft Sie persönlich gerne hätten. Falls dies nach einer Art Schizophrenie klingt, willkommen in meiner Welt.
Verschwörungstheorien
Der Begriff Verschwörungstheorie hat Hochkonjunktur. Wir reden hier nicht nur über Theorien wie „Entführung durch Aliens“ (eine durchaus plausible Geschichte, wenn wir uns anschauen, wie ungeniert wir als Menschen Tierversuche durchführen; wie wahrscheinlich es ist, dass es Aliens gibt und sie uns besuchen, ist eine andere Frage). Krisenzeiten sind natürlicherweise gute Zeiten für alternative Erklärungsmodelle aber der Begriff eignet sich auch sehr gut, um abzulenken und politische Gegenspieler in eine unvorteilhafte Ecke zu drängen. Heutzutage würde jeder, der Walter Ulbrichts berühmten Satz „Niemand hat die Absicht eine Mauer zu errichten.“ in Frage stellen würde, als Verschwörungstheoriker bezeichnet. Lassen Sie sich nicht beeinflussen, einer sogenannten Verschwörungstheorie zuzuhören oder sie wiederzugeben bedeutet nicht, dass wir selber Verschwörungstheoretiker sind, wie gerne suggeriert wird. Im professionellen Umgang mit Informationen und Zukünftigen bedeutet es lediglich, dass wir auch Erklärungsmodelle außerhalb unseres normalen Denkrahmens und unserer Komfortzone zulassen, unabhängig davon, ob wir sie glauben oder mögen und – darum geht es – den Möglichkeitsraum weiter fassen als dies üblicherweise getan wird.
Wissenschaft im Boxring
Sind wir auf der Ebene der Medien und Veröffentlichungen selten im neutralen Raum oder offenen Diskurs, so geht die Polarisierung auf der wissenschaftlichen Ebene weiter. Die Fachdiskussionen, die früher in geschlossenen Kreisen lief, wird jetzt öffentlich und zunehmend aggressiver, abwertender und tendenziöser geführt. Da wir häufig weder das Wissen noch die Zeit haben, der Faktenlage auf den Grund zu gehen oder zu warten, bis sich ein Konsens gebildet hat, können wir nur mit den unterschiedlichen Szenarien weiterarbeiten. Wir sollten offenbleiben und Außenseiter-Positionen berücksichtigen, die in der Vergangenheit schon oft Konsens wurden. Beim Klimawandel und bei Covid sind wir dann sehr schnell wieder zurück in den (angeblichen) Verschwörungstheorien und es gilt siehe oben.
Den Pfad finden
Wir wissen ganz genau, dass der Weg anstrengender ist als der Gedanke daran. Deshalb besagt die fünfte Regel, dass es nicht um eine bestimmte Zukunft, sondern um den Weg dorthin geht, darum was wir benötigen, was uns begegnen könnte und was zu vermeiden wäre. Ohne den Weg festzulegen ist die Wahrscheinlichkeit gering, dass wir uns überhaupt auf den Weg machen oder jemals irgendwo ankommen, denn die Zukunft – das haben wir schon diskutiert – ist ein bewegliches Ziel. In den Kundenprojekten von Visionary Labs kartieren wir die Wege zwischen Gegenwart und möglichen Zukünften und Innovationen daher sehr gründlich.
Der Mensch im Fokus
Sie werden eine Reihe von Zukunftsvisionen finden, in denen der Mensch kaum oder nur als passiv agierende Beiwerk vorkommt, manchmal aus Absicht oder weil der Faktor Mensch die Dinge nur unnötig kompliziert. Meiner Ansicht nach sollten wir keine Zukünfte ohne eine klare Rollenbeschreibung des Menschen akzeptieren. Es ist wie mit den berühmten Organisations-Charts: Wenn ihre Abteilung dort nicht auftaucht, kommen sie auch nicht mehr vor.
Es ist leicht, den Endpunkt einer Zukunft mit hundertprozentigem Automatisierungsgrad oder ebensolcher Nachhaltigkeit zu denken. In Star Trek kommen häufig Gesellschaften vor, die mit Hochtechnologie in einer Agrarkultur leben, eine zugegeben attraktive Zukunftsvision. Leider sind die Wege in diese Zukunft nur bedingt kinotauglich und zudem ist es harte Denkarbeit.
Fazit
Die uns verbleibende Zeit auf diesem Planeten werden wir in der Zukunft verbringen. Selbstverständlich gibt es keine Garantie für eine gute oder für das Eintreten einer bestimmten Zukunft. Sofern wir aber unsere Zukunft nicht selbst entwerfen und gestalten, werden wir mit dem Vorlieb nehmen müssen, was von selbst entsteht oder von anderen Akteuren beabsichtigt wird. Da die Akteure unterschiedlichen Ideen folgen, ist es folgerichtig nur konsequent selber nach vorne zu denken.
Wenn wir das uns unbekannte Gebiet erforschen wollen, nutzen uns alte Karten nur wenig. Gute Zukünfte entstehen aus einem freien Denken und gegen die Muster des Systems, in dem wir uns befinden, denn dies sind Beschreibungen des „Jetzt,“ welches wir gedanklich hinter uns lassen müssen. Lassen Sie sich nicht beeinflussen von Denkverboten und vorgefertigten Denkrahmen, in denen festgelegt ist, was gedacht werden darf und wie die Dinge sein sollten. Mit einer professionellen und menschlichen Haltung können wir multiple Weltsichten und Zukunftsmöglichkeiten offenlassen und mögliche, bisher nicht gedachte Wege und bedachte Hindernisse erkennen.
Meiner Meinung nach sind wir an einem kritischen Punkt angelangt, an dem nicht unbedingt sicher ist, ob wir auf diesem Planeten werden verweilen können. Wenn wir unsere eigene Zukunft und die unserer Spezies sichern wollen, dann benötigen wir alle Kreativität, die wir finden können. Lassen Sie sich nicht einfangen vom Zeitgeist der Polarisierung, Zuspitzung und der lahmen Zukünfte, die uns im alten Muster der industriellen Vergangenheit und Politik halten. Wie benötigen neue Antworten auf die alten Probleme, also kochen Sie bitte ein interessantes Zukunftsgericht, denn Fast Food haben wir schon genug.
Dieser Blog-Post wurde initial im IMCI Magazine veröffentlicht.