Auch wenn nach landläufiger Meinung die Innovation ein schönwettriges, aber schwammiges Konzept ist – anscheinend gibt es heutzutage mehr Definitionen davon als der sprichwörtliche Eskimo Wörter für Schnee kennt – gibt es doch eine ursprüngliche Definition, die ziemlich genau darlegt, um was es geht.
Die Definitionsexplosion stammt aus der jüngeren Vergangenheit und hat auch etwas damit zu tun, wie die Innovation aus der Welt der Ökonomie in die Beraterwelt abdriftete. Deswegen hier die Geschichte mal (fast) ganz von vorne.
Schnellere Pferde und eine kalte Dusche: Die frühe Neuzeit der Innovationsforschung
Dass die Innovation möglicherweise etwas ist, das man studieren könnte – auf diese Ideen kamen in den frühen 1980ern einige Ökonomen, nachdem sie die Bücher Joseph Schumpeters neu gelesen hatten. Schumpeter gilt heute als der Übervater der Innovation und seine Wiederentdeckung war das Ergebnis der Suche nach einer Lösung für ein ökonomisches Puzzle: das der Faktorproduktivität. In einer statischen Welt, wie die neoklassische Ökonomie sie vorsieht, sollten gleichviel Produktionsfaktoren (Arbeit, Kapital und – gerne vergessen – Boden) auch gleichviel Output erzeugen. Das taten sie aber nicht, insbesondere in der Nachkriegszeit stieg die Faktorproduktivität stark an. Die erste, etwas vage Antwort zu diesem Puzzle war Technologie.
Bei der Präzisierung half das genauere Lesen von Schumpeters Hauptwerk „Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie“, das größtenteils ein schwieriges politologisches Traktat ist, aber auch auf ein paar bemerkenswert klar formulierten Seiten das Wesen des Unternehmertums zusammenfasst: Unternehmer, so Schumpeter, können zwei Sachen gut: neue Kombinationen aus alten Zutaten zaubern, und Dinge umsetzen. Wirtschaftswachstum ist damit nicht das Ergebnis einer Ansammlung von Dingen, sondern vor allem der Umwidmung, des schlaueren Einsatzes dieser Dinge für produktivere Zwecke, dank ein paar unternehmerischer Individuen.
Schumpeter gab diesem Prozess auch einen Namen: die „schöpferische Zerstörung“, um auch beim Buzzword-Bingo mitspielen zu dürfen. Damit ist Produktivitätswachstum nicht mehr einfach nur das Ergebnis von Technologie, sondern auch von deren nutzbringender Umsetzung: der Innovation.
Weniger auffällig als Schumpeter, der gerne in Reiterkluft unterrichtete, war Zvi Griliches, der ihm in Harvard nachfolgte. Vielleicht lag es an Griliches’ rustikalem Auftreten, dass er wesentlich seltener genannt wird, wenn es um die Gründerväter der Innovationsökonomie geht, aber seine Beiträge erzeugten den sprichwörtlichen Quantensprung in der Forschung. Griliches war vor allem interessiert, die Verbindung zwischen technologischem Fortschritt und volkswirtschaftlichem Nutzen empirisch aufzuzeigen, und das tat er erst einmal in der ältesten Old Economy, der Landwirtschaft.
Seine Dissertation über die geografische Verbreitung von Hybridmais war bahnbrechend in mehreren Punkten: Zum einen führte er die logistische Funktion – die S-Kurve – ein, die zur Standarddarstellung von Innovationsprozessen wurde.
Nebenher erfand er die Innovationsgeografie, die uns heute hilft, zu verstehen, warum man das Silicon Valley nicht einfach so kopieren kann. Die Mechaniken, die Griliches am Beispiel Mais beschrieb und erforschte, sind die, die wir heute bei Uber und Facebook einsetzen.
Zitronenmärkte und kritische Masse
Nach Schumpeter und Griliches kam in den 1960ern die Informationsökonomie auf, die mit der neoklassischen Annahme, dass Information sich unendlich schnell überall hin verbreitet, kurzen Prozess machte. Ken Arrows Informationsparadox machte den Anfang: Anhand der Forschung und Entwicklung zeigte er auf, wie Information (oder präziser: Wissen als angesammelte Information) zwar teuer zu erzeugen ist, dann aber sehr viel billiger nachgeahmt werden kann.
Eine Volkswirtschaft, die ihre Erfinder nicht schützt, wird deswegen aufhören, neues Wissen zu erzeugen, weil kopieren so viel einfacher, billiger und schneller ist. Seine Einsicht half, Urheberrechte und geistiges Eigentum effektiver zu schützen.
Arrow gab das Signal für eine Reihe von neuen Erkenntnissen zum Thema asymmetrische Information: Den Anfang machte George Akerlof mit seinem Zitronenmarkt („Zitronen“ sind in diesem Fall aufgehübschte, aber mängelbehaftete Gebrauchtwagen). Die adverse Selektion und die moralische Versuchung waren insbesondere für die Versicherungsbranche relevant, für den Arbeitsmarkt gab es die Selbstselektion und andere asymmetrielösende Konzepte: Wo immer es um Information geht, gibt es versteckte Charakteristiken, versteckte Intentionen und versteckte Handlungen, die überkommen werden müssen. Von Tinder bis zur Blockchain greifen heute eine ganze Reihe von Lösungen auf die asymmetrische Information zurück.
Thomas Schelling hat die Weltgeschichte möglicherweise mehr beeinflusst als alle anderen Helden dieser Geschichte – möglicherweise haben wir es ihm zu verdanken, dass der Kalte Krieg nicht zu einem thermonuklearen Krieg mutierte. Deswegen sind seine Beiträge zur Innovationsökonomik fast schon Abfallprodukte der Weltraumforschung, aber sie sind trotzdem extrem wichtig: Seine Ideen zur kritischen Masse und zum Tipping Point sind relevant für alle Netzwerk- und Plattformstrategien in der New Economy. Und das sind nahezu alle.
Die 1980er und der Anfang des Internet–Zeitalters
Eine neue Generation von Ökonomen nahm diese Ideen auf und entwickelte in ein paar sehr produktiven Jahren Mitte der 1980er das Rüstzeug für die New Economy. Es sollte dabei nicht verwundern, dass diese Ökonomen entweder schon im Silicon Valley und der Bay Area arbeiteten oder zumindest dort hinstrebten.
Der Wettbewerb zwischen Technologiestandards (VHS vs. Beta zum Beispiel), Netzwerkeffekte, Pfadabhängigkeit, die kritische Masse und der technologische Lock-in waren Erkenntnisse, die schnell zum Werkzeug der neuen Ökonomen und von den Technologiefirmen der Gegend aufgesogen wurden.
Damit positionierten sich die lokalen Unis in Stanford und Berkeley an die Spitze des Forschungsgebietes der Industriellen Organisation (IO), das sich mit Marktstrukturen und Geschäftsmodellen befasst. Zu dieser wurde auch die Frage, warum die beste Technologie nicht immer gewinnt, heftig diskutiert, und die wichtigsten Passagen aus Schumpeters Buch tauchten wieder in den Leselisten der Beteiligten auf. Technologie allein ist noch keine Innovation, es fehlt noch eine weitere Zutat – das Unternehmertum.
Auch wenn der Webbrowser nicht im Silicon Valley erfunden wurde, sondern in den Maisfeldern von Illinois, zogen die beiden Erfinder Marc Andreessen und Eric Bina doch schnell Richtung Westen, um Venture Capital einzusammeln. Dort strickten sie ihren NCSA-Mosaic-Browser in den Netscape Navigator um und traten damit das Internet-Zeitalter los.
Der darauf folgende kurze, aber intensive Schub für die lokale Wirtschaft, heute als Dot-Com-Blase bekannt, brachte der Stanford-Berkeley-IO-Connection ziemlich viel Aufmerksamkeit – ein Großteil davon aus den Business Schools, die gerade merkten, dass Change Management nicht mehr so das neue heiße Thema war.
Viele der jungen Ökonomie-Professoren waren selbstbewusst genug, ihre Ideen auch MBAs vorzustellen und damit ihr VWL-Honorar aufzubessern. Zwei der bekannteren waren die Berkeley-Professoren Carl Shapiro, Miterfinder der Netzwerkeffekte, und Hal Varian, heute Chefökonom bei Google. Zusammen schrieben sie „Information Rules“, das Handbuch zur New Economy für den MBA. Obwohl das Buch 1999 erschien, hatte es doch einen Copyright-Vermerk von 2000: Die Zukunft hatte schon begonnen, und mit ihr kamen die ersten paar Dutzend, häufig nur halbdurchdachten Definitionen des Begriffs Innovation.
Die Browser-Kriege
Die Ökonomen hatten noch ein letztes Mal die Chance, der Diskussion ihren Stempel aufzudrücken, als das amerikanische Justizministerium Microsoft verklagte. Der Softwarekonzern hatte versucht, sein Monopol bei den Betriebssystemen zu nutzen, um seinen Internet Explorer durchzusetzen und damit Netscape aus dem Markt zu drücken. Das fanden die Kartellwächter überhaupt nicht lustig. Bald waren die meisten der Berkeley- und Stanford-Professoren damit beschäftigt, die eine oder andere Seite in dem Rechtsstreit zu vertreten, Armeen von unterbezahlten Doktoranden im Schlepptau.
Auch wenn die frisch gewählte Bush-Regierung dem Rechtsstreit schnell die Luft abließ, änderte er doch das Denken radikal: Monopole sind nicht mehr automatisch schlecht. Wenn sie in der Lage sind, die Wirtschaft technologisch voranzubringen, können temporäre Monopole hilfreich sein – wie von Arrows Paradox vorhergesagt. Heute kennt man sie als Schumpeter-Monopole. Der Microsoft-Fall war möglicherweise auch die letzte Gelegenheit, das Wort Innovation genau zu definieren. Wenn auf der Gegenseite 5.000-Dollar-Anwälte sitzen, sollte man es mit der Wortwahl schon sehr, sehr genau nehmen.
Für Außenseiter ist es vielleicht nicht so offensichtlich, wie gegensätzlich die Ökonomie und die Betriebswirtschaft in ihren Herangehensweisen sind, deswegen zur Erläuterung: Das, was man in MBA-Programmen als Corporate Strategy lehrt, ist nichts anderes als die Industrielle Organisation auf den Kopf gestellt und auf replizierbare Handlungsanweisungen und 2×2-Kästchen heruntergeschraubt: Die IO interessiert sich für wettbewerbsverzerrende Fehler in der Marktstruktur, ist völlig durchmathematisiert, und versucht, unfairen Wettbewerb in solchen Märkten zu verhindern.
Es war die schlaue Idee von Michael Porter, das Wissen der IO zu nehmen und komplett umzudrehen: Fehler in der Marktstruktur kann man ausnutzen, um Profite und Marktmacht zu gewinnen. Monopole sind die Bösewichter der Ökonomie, aber die Hoffnungsträger der Firmenstrategie. Ob diese gemeinnützig oder schädlich sind, wurde erstmal hintenan gestellt.
Die kleine Welt der offenen Innovation
Eine der ersten Erkenntnisse des neuen Jahrtausends kam von der Columbia University in New York, als Duncan Watts die Graphentheorie wieder zum Leben erweckte und sie auf das beliebte Spiel „Six Degrees of Kevin Bacon“ anwendete und damit der Analyse der sozialen Netze einen entscheidenden Impuls verlieh – gerade rechtzeitig, um einem Harvard-Studenten eine tolle Unternehmensidee zu geben.
Fast zur gleichen Zeit kam Hank Chesbrough von Harvard zurück nach Berkeley, dem Epizentrum der Patentforschung. Die frühen 2000er waren das Zeitalter der Patentdickichte: Technologiefirmen meldeten wie wild Patente an und versuchten, sich gegenseitig mit den angehäuften Patentstapeln plattzumachen.
Chesbrough, ein zum Wirtschaftsprofessor mutierter Unternehmer, fand diese Strategie der Selbstabschottung eher unproduktiv und kam auf die schlaue Idee, bei den Entwicklungsabteilungen die Jalousien hochzurollen und Open Innovation in die Labore zu lassen. In der Welt des Strategie-Buzzword-Bingos landete er damit einen Volltreffer.
Es ist kein Zufall, dass Chesbrough seine Ideen kurz nach dem Platzen der Dot-Com-Blase veröffentlichte, als das Silicon Valley nach dem Rausch der Venture-Capital-Party verkatert aufwachte und realisierte, dass sich die Investoren erstmal verkrochen hatten. Plötzlich war frugal und schlank wieder in Mode, und kein Startup kam mehr auf die Idee, sein gesamtes Marketingbudget für eine Superbowl-Werbeminute rauszuballern. Oder erinnert sich noch jemand an Pets.com?
Fast gleichzeitig sattelte Steve Blank von einer erfolgreichen Gründerkarriere auf Akademiker um und kombinierte seine Hobbys – Gründen, mit Leuten Reden und die wissenschaftliche Methode – um daraus die Idee von Lean Startup zusammenzumischen: Wenn man schon scheitert, sollte man es doch besser tun bevor man das Geld anderer Leute verbraten hat.
„Irgendwas mit Startups und Innovation“
Steve Blank und ein paar andere – die Erfinder des Y Combinators sollten erwähnt werden – schafften es, Startups genau dann wieder hip zu machen, als Großunternehmen anfingen, ihre eigene Herangehensweise anzuzweifeln. Forschungs- und Entwicklungslabors waren zu weit weg von der Welt und zu langsam, um mit dem Markt mithalten zu können. Die Kernidee von Lean Startup ist es, die Marktentwicklung so früh wie möglich zu beginnen, möglicherweise noch vor der Produktentwicklung, um so viele Marktsignale wie möglich mitzunehmen.
Für Firmen, die zwanzig Jahre und mehr die Elektromobilität und das autonome Fahren in ihren Entwicklungslabors angeschoben hatten, klang dieses neue Offene-Innovations-Dingens ziemlich spannend, und manche fingen gleich damit an, ihre Forschungsabteilungen in Innovations-Hubs umzubenennen. Hin und wieder half das, den Funken des Schöpfergeistes überspringen zu lassen, aber in den meisten Fällen kam damit doch nur ein Schlag MBA-Schaum auf den Forscherkuchen.
Die Zeit wird zeigen, ob aus diesem Konstrukt etwas Tragbares entsteht, oder ob es auch nur wieder eine Seifenblase aus den Konzernstrategieabteilungen ist. Die zwei Beispiele aus dem Automobilbereich – es gibt ein Dutzend andere, zum Beispiel aus der künstlichen Intelligenz – machen zwei Sachen klar: Erstens dauert es manchmal 20 oder mehr Jahre, bis eine Technologie marktreif ist. Zweitens hilft uns volkswirtschaftlich nicht viel, wenn wir die ersten sind, die etwas erfinden, und dann zuschauen müssen, wie das Silicon Valley es zuerst in den Markt einführt. Dazu braucht man keine MBA-Schaumkrone, sondern etwas, was nie richtig in Europa angekommen ist: den Technologietransfer. Der wiederum wäre vielleicht mal ein Thema für eine weitere Historie.
Dieser Blog-Post wurde initial auf Gründerszene veröffentlicht.